Ich bin vor Kurzem zufällig beim Twitterkonto von Yanis Varoufakis vorbei gestolpert. Und da habe ich eine Rede gelesen, die er vorm EU-Parlament gehalten hat. Es stand leider nicht da, wer ihn eingeladen hat (hat MERA25 überhaupt Sitze im Parlament?).
In seiner Rede scheint mir mindestens an der Stelle, wo Russland als Gefahr stehen sollte, eine große Lücke zu sein. Den Rest kann ich nicht hinlänglich zureichend bewerten.
Vielleicht kann mir ja jemand von euch helfen, das einzuordnen & mir sagen, ob MERA25 letztlich nur eine weitere Front im russischen Propagandakampf ist.
Es gibt unter Linken (und ich meine hier Kommunisten, Antiimperialisten oder (wie Varoufakis) marxistisch geprägte demokratischen Sozialisten, nicht Linksliberale wie z.B. der überwiegende Teil der Linkspartei, besonders deren Parteiführung) zwei Sichtweisen auf den Russland-Ukraine-Krieg:
Das ist ein zwischenimperialistischer Konflikt. Westliche und russische Kapitalisten bekriegen sich, auf dem Rücken der Arbeiterklasse die kämpft und stirbt, für Märkte, Rohstoffe und strategische Positionierung. Die Aufgabe von Linken Orgas ist es (nach Lenin/Luxemburg) sich mit der Arbeiterklasse des angeblichen Feindes zu solidarisieren, und die Fähigkeit der Imperialisten, Krieg zu führen, zu untergraben, um das sterben und töten von Arbeitern zu stoppen. Im besten Fall führt das zu günstigen Bedingungen für die Revolution (wie Oktoberrevolution in Russland, oder die gescheiterten Aufstände in Deutschland nach dem 1. Weltkrieg). Dazu sollte man in erster Linie die Fähigkeit des eigenen Staates bekämpfen, Krieg führen zu können, und nicht wie die SPD damals den Staat gegen den externen Feind unterstützen. Nennt sich revolutionärer Defätismus.
Der Ukraine-Krieg ist ein Versuch des westlich-imperialistischen Blocks, Russland zu unterwerfen und (wieder) zu einer westlich dominierten Semikolonie zu machen, wie dies in den 90ern de-facto der Fall war. Russland sollte gegen diese imperialistische Aggression kritisch (d.h. nicht allgemein, sondern in diesem speziellen Zusammenhang) unterstützt werden, wie man auch verschiedene nationalistische Befreiungsbewegungen in vielen (semi-)kolonisierten Regionen unterstützt hat und immer noch tut (wie z.B. jetzt gerade in Palästina). Die Logik dahinter ist, dass die Befreiung von der kapitalistischen Klassenherrschaft untrennbar mit dem Kampf gegen koloniale Herrschaft verbunden ist, und dass Kampf gegen das eine Freiräume für Kampf gegen das andere schafft.
Da gibt es einiges an Streit zwischen den Lagern, manche Organisationen haben sich darüber gespalten (z.B. in Deutschland die KO (die Abspaltung hat die KP gegründet)). Unter deutschen Linken (und im Westen allgemein) ist die erste Sichtweise glaube ich prominenter, im Globalen Süden eher die zweite.
Beide Einschätzungen haben lange Tradition im linken Spektrum. Die Tatsache, dass du das für russische Propaganda hältst, ist meiner Vermutung nach deswegen, weil liberale Medien abweichende Meinungen zum Ukraine-Krieg grundsätzlich und präventiv als russische Propaganda verunglimpfen. Die Bevölkerung wird gewarnt, auf der Hut zu sein vor den russischen Propagandisten und ihren Narrativen, damit, wenn die Kriegslogik von irgendwem hinterfragt wird, reflexartig der Gedanke kommt, es handle sich um Feindpropaganda, die man nicht konsumieren oder ernst nehmen sollte.
Wie soll diese Strategie denn zu einem sinnvollen Ergebnis führen in der aktuellen Situation? Russland greift uns an und wir sorgen dann in demokratischen Prozessen dafür, dass es keine Verteidigungsmöglichkeit gibt. Russland hingegen hat keine demokratischen Prozesse; solange also Putin noch irgendjemanden motivieren kann, diesen Krieg zu bestreiten, wird dieser Krieg weitergehen.
Ich finde die aktuelle Strategie dieser Bundesregierung “mehr Gas kaufen und mehr Waffen kaufen” auch widersinnig. Ich wünschte mir, wir täten alles, um Gas und Öl abzulösen, damit Preise für die russischen Hauptexportgüter sinken; und ich wünschte mir, wir würden einfach bei den ominösen 2% bleiben, aber vielleicht nicht alles davon an McKinsey weiterleiten. Und ich wünschte mir, wir würden der Ukraine endlich den Weg frei machen, russische Exportindustrie, also wiederum Gas und Öl, einmal vollständig wegzubomben. Das verursacht natürlich auch Leid, weil jeglicher Gütertransport davon betroffen ist, aber das scheint der einfachste Weg, diesen Krieg mal zu beenden.
Das find ich ein bisschen bösartig. Wir wissen ja durchaus, dass die russische Regierung strategisch ausländische Parteien unterstützt, von denen sie sich eine Lähmung des jeweiligen ausländischen politischen Systems erhofft, diese Art der Propagandafähigkeit ist einer der großen Trümpfe Russlands. Prominenterweise sind das in Dland die Afd und das Bsw.
Genau das ist das Problem. Und aus historischen Erfahrungen mit Diktaturen als Konfliktparteien sollten wir eigentlich wissen, dass ideologisch gefestigte Diktaturen, die ausreichend Zeit hatten, ihre Bevölkerung durch Gehirnwäsche und Repression gefügig zu machen, nur durch eine massive Übermacht militärisch besiegt werden können, weil die im Zweifel weiterkämpen, bis zum bitteren Ende. Gerade in Deutschland sollte man das eigentlich wissen, denn hier gab es das schonmal.
Es ist ja auch Linken bisher tatsächlich schwer gefallen, die Gefahr durch Russland als real zu bewerten. Das heisst nur noch nicht, dass die Militärindustrie ein Freund der Demokratie oder einer sozialdemokratischen Wohlstandsverteilung ist. Geld, das z.B. für Sozialwohnungen oder Krankenhäuser ausgegeben wird, kann nun mal nicht bei Krauss-Maffei oder amerikanischen Militärfirmen landen.
Gerade da muss man ansetzen. Als EU sollte man keine Technik bei amerikanischen Herstellern einkaufen. damit begibt man sich in eine gefährliche und sinnlose Abhängigkeit. Wenn man Firmen vernünftig reguliert, dann bezahlen die ihre Leute anständig, dass die keine Sozialwohnungen brauchen, außerdem sorgt gerechte Besteuerung der Gewinne von Konzernen dafür, dass genug Geld für sozialen Wohnungsbau da ist.
lemmy.ml-Moment.
…und deshalb hat Russland die Ukraine in bis heute fortbestehender Eroberungsansicht militärisch überfallen? Das ist mir eine Dimension zu hohes Schach.
Mal komplett abgesehen davon, dass @gnuhaut scheinbar eine interessante Schuldumkehr beim Ukrainekrieg macht…:
Ich würde durchaus soweit gehen, dass Russland in den 90ern nicht sonderlich gut behandelt wurde, dort zugesehen wurde, wie Lebensentwürfe zu Bruch gingen; und, dass Russland sich als Feindbild für schlechtere Zeiten warm gehalten wurde, während gleichzeitig westliche Firmen “Märkte erschlossen” haben. “Semikolonie” geht vielleicht ein bisschen weit, denn es hatte ja niemand wirklich Interesse an Russland.
Zwei Dinge:
Was genau meinst du mit “nicht gut behandelt”?
Die Markterschließung war durchaus beidseitig, wie es durch zahllose Beispiele von russischen Beteiligungen in Ost- und Westeuropa, insbesondere auch Deutschland belegt ist. Und dabei reden wir noch nicht mal über die exorbitanten Reichtümer, die russische Oligarchen in den letzten Jahrzehnten in Europa angehäuft haben. Der Begriff Londongrad kommt nicht von ungefähr.
Naja, aber sind die Lebensentwürfe nicht im ganzen ehemaligen Osten zu Bruch gegangen? Stand ein Mensch aus der ehem. DDR etwa weniger vor dem Nichts, als von heute auf morgen seine Arbeitsstätte verschwand, sein Alltag, usw?
Natürlich hatte Russland in den 90ern eine scheiß Zeit und in ihr liegt auch viel Ursache von dem, was wir heute dort erleben. Ich denke mir nur, dass das ja etwas ist, was weite Teile Europas ebenfalls erleben mussten - die DDR, Polen, Baltikum, oder eben auch die Ukraine - und die haben es irgendwie schon geschafft, da anders durchzukommen.
Wäre Russland tatsächlich ‘Semikolonie’ des Westens gewesen, hätte ich als Westen wohl kaum zugesehen, wie ein Putin dort die Macht übernimmt.
Nee, mir schwingt bei solchen Bildern immer zu sehr die Latenz mit, dass ein Land wie hier eben Russland ein passives, entmündigtes Land ist, dass mehr oder minder führungslos auf den großen Wellen der Anderen von links nach rechts geschleudert wird. Ich für mich denke mir, dass Russland kein Land zweiter Klasse ist, das ich von außen entmündigen und klein machen muss, sondern durchaus genug eigene Kraft hat, selbst seinen Weg zu wählen, aber eben auch für das eigene Handeln Verantwortung zu übernehmen. Keine Ahnung, ob ich den Gedanken gut vermitteln konnte…